Während die Kirchen einen dramatischen Bedeutungsverlust erleben, interessieren sich immer mehr Menschen für Spiritualität. Doch was ist das? Der bekannte Benediktiner-Mönch und Zen-Meister Willigis Jäger definierte Spiritualität als „Weg in die Erfahrung dessen, wovon die Religionen erzählen.“ In der Spiritualität geht es also um persönliche Erfahrungen mit der Welt des Übernatürlichen.
Wovon Spiritualität ausgeht
Spiritualität ist nicht zwingend an eine Religion gebunden, sie ist vielmehr eine Lebenseinstellung, die erfahrend das Wesen der Welt, das eigene Wesen und den Sinn der Existenz erkennen möchte. Religionen sind „Lehren“, sie betonen den Unterschied und erwarten, dass man sich zu ihren Aussagen bekennt. Spiritualität ist „Praxis“, ist offen und betont das Gemeinsame, Verbindende.
Spiritualität geht davon aus, dass die sichtbare materielle Welt nur Teil eines mehr geistigen Universums ist, dass es also jenseits der sinnlich wahrnehmbaren Welt noch eine weitere Dimension gibt, die der greifbaren Welt zugrunde liegt und mehr als diese ist. Sie wird darum auch als transzendente Dimension (transcedere = eine Grenze überschreiten) bezeichnet, als geistige, göttliche oder übernatürliche Welt.
Spiritualität geht weiterhin davon aus, dass die Verbindung mit dieser Welt unsere wahre Bestimmung ist. Sie nennt sie darum auch die Welt des Wesentlichen. Mit einer rein irdischen Orientierung würden wir unser wahres Wesen verfehlen und unter unseren Möglichkeiten bleiben. Wiederum mit einem Wort von Willigis Jäger: „Wir sind nicht menschliche Wesen, die spirituelle Erfahrungen machen, sondern spirituelle Wesen, die eine menschliche Erfahrung machen.“ Wir stammen also selbst aus dieser anderen Dimension und machen jetzt Erfahrungen unter den Bedingungen von Raum und Zeit auf dieser Erde.
Spiritualität geht außerdem davon aus, dass aus dieser Verbindung mit der Welt des Wesentlichen Kräfte in unser Lebens fließen, die Wirkung zeigen. Darum ist es entscheidend, sich für diese Kräfte zu öffnen. Die Geschichten der christlichen Bibel sind z.B. Bilder, die in Analogien beschreiben, was geschieht, wenn diese Kräfte in unser Leben kommen. Sie werden als aufwühlend, heilsam, stärkend und vor allem radikal verändernd beschrieben. Transformation ist daher das Ziel spiritueller Bewegungen – Transformation des eigenen Bewusstseins: aus der Trennung in die Allverbundenheit, aus Verzweiflung und Unsicherheit in die Allsinnhaftigkeit, aus Begrenztheit in die eigene Göttlichkeit, aus Angst in Vertrauen und aus Ego-Orientierung in die All-Liebe.
Was heißt spirituell leben?
Zunächst mal nichts anderes, als die Grundannahmen der Spiritualität zu teilen, dieser jenseitigen Dimension also im eigenen Leben Raum zu geben und Interesse und Aufmerksamkeit zu widmen. Darüber hinaus geht es um eine spirituelle Praxis im Alltag, die einem Erfahrungen möglich macht.
Dazu gehört z.B. das Lesen spiritueller Texte, die entsprechende Gedanken und Erfahrungen anderer enthalten und als Anregungen dienen können. Auch die „Heiligen Schriften“ verschiedener Religionen gehören dazu. Aus dem Lesen kann dann die Kontemplation entstehen, die meditative Betrachtung einzelner Sätze.
Theoretisches Wissen ist nicht genug. Es braucht Übung, um Spiritualität zu entwickeln. „Königsdisziplin“ der Übungen ist die Meditation, z.B. in der Beobachtung des Atems. Dabei geht es darum, das Karussell der Gedanken zu beruhigen, den Kopf freizubekommen, auch vom gewohnten Selbstverständnis oder gewohnter Weltanschauung und religiöser Konzepte. Leerwerden heißt das Zauberwort, denn nur eine leere Schale kann gefüllt werden.
Eine weitere Möglichkeit ist die körperorientierte Meditation wie z.B. Yoga, bei dem über äußere Haltungen innere Haltungen geschult und gestärkt werden.
Auch Achtsamkeitsübungen sind eine gute Hilfe, das achtsame Wahrnehmen von Körperempfindungen, Gedanken und Gefühlen, um ganz in ein Gegenwärtigsein zu kommen.
Eine wichtige Praxis ist die Kultivierung von Dankbarkeit, Mitgefühl und wohlwollender Güte. Führe ein Dankbarkeitstagebuch, in das Du jeden Tag 3 Erfahrungen einträgst, für die Du dankbar sein kannst. Verschenke täglich etwas – z.B. Zeit, ein paar Cent für Bettler oder lass jemandem den Vortritt.
Praktiziere Rituale, um Dich mit der anderen Dimension zu verbinden. Schaffe Dir einen „Hausaltar“ mit für Dich bedeutsamen Symbolen. Zünde Kerzen an, räuchere mit Duftstoffen, singe Mantren, nimm an Gottesdiensten teil.
Die alten Kulturen zählten zu den spirituellen Praktiken auch Mathematik und Musik, weil es in beiden Disziplinen um das Erkennen von Ordnungen, Strukturen und Verhältnissen geht.
Die Bandbreite spiritueller Erfahrungen ist weit. Sie können unser Leben auf vielfältige Weise bereichern und vertiefen. Sie können uns verstören, meist sind sie erhebend, schenken vertieftes Wissen und inneren Frieden. Dafür aber gilt es, dranzubleiben.